Verortungsversuche

Jean-Claude Brialy und Philippe Noiret, Ulrich Mühe und Ulrich Plenzdorf, und dann noch Michelangelo Antonioni und Ingmar Bergman, beide am 30. Juli. "Müssen die denn alle auf einmal …?" stöhnt der Freitag-Redakteur, und die Blätter wollen einen gemeinsamen Nachruf! Da wirft der Tod und redaktioneller Sinn für Platzökonomie zwei zusammen, die nicht zusammengehören.

Bergman stammte aus einer evangelischen Pfarrersfamilie, die strenge Erziehung führte zu einem lebenslangen Vaterkomplex. In der Schule fiel er auf, weil er nicht fähig sei, "zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden". Viele seiner Filmfiguren sind von diesem Gegensatz geprägt: Ihr Leib und ihre Seele streben unterschiedliche Ziele an, ihr Handeln ist von Fremdheit und Geborgenheitsdrang geprägt. In seiner zentralen "religiöse Trilogie" mit den Filmen Wie in einem Spiegel, Licht im Winter und Das Schweigen (1961-63) leiden die Figuren unter Ausgeschlossensein, Gefühlskälte. Liebe, Glaube und menschliche Nähe sind verloren, Gottesdienste und Liebesakte werden zu leeren Riten.

Antonioni studierte Ökonomie, wandte sich dann aber künstlerischen Tätigkeiten zu: Literatur, Theater, Kino. L'avventura (Die mit der Liebe spielen, 1960) gilt als der Beginn der Moderne in der Filmgeschichte, und begründet einen neuen Umgang mit der Wirklichkeit: Sie wird nicht im bewußten Zugriff gestaltet, als Metapher oder Antagonistin für die Figuren. Der Regisseur bringt ihr nur eine eingeschränkte, zerstreute Aufmerksamkeit entgegen, sie ist nicht Träger eines Sinns, sondern eines Zweifels. Auch hier entstand eine Trilogie, mit La notte (1962) und L'eclisse (Liebe 1962, 1962). Wie kurz zuvor in Fellinis La dolce vita (1960) wird hier das kohärente Erzählen selbst in Frage gestellt, dem Filmmedium seine theatralische Affinität und narrative Kompetenz verweigert. Die Natur oder das ihre Stelle einnehmende Vakuum der geschäftigen Großstadt ist keine Kulisse und auch kein Ort der Läuterung. Der Filmerzähler präsentiert weder psychologisch glaubwürdige Gestalten noch interessante Geschichten. Die formale Gleichgültigkeit produziert das fragmentarisierte Bild eines emotionalen und moralischen Vakuums.

In L'avventura ist nach 23 Filmminuten plötzlich die junge Anna verschwunden, der restliche Film zeigt die erfolglose Suche nach ihr, zunächst in den wilden Bergen der Liparischen Inseln (mehr als 45 Minuten). Das Insistieren auf den Bildern der kahlen Felsen ist für eine Handlungsökonomie ebenso kontraproduktiv wie die erzählerische Indifferenz: Anna, die Verschwundene, gerät in Vergessenheit und sich anbahnende Liebesverhältnisse scheitern, noch ehe sie beginnen.

Demgegenüber haben Bergmans Kammerspiele noch die Attitüde klassischer Dramen. Die Eröffnungsszene von Das Schweigen spielt in einem Zugabteil, draußen fliegt eine erkennbar künstliche Landschaft vorbei, von Monotonie und Leere geprägt, auch das Fahrgeräusch ist offensichtlich synthetisch. Panzer, die später am Hotelfenster vorbeifahren sehen wie Pappmodelle aus. Die Umgebung stellt ihre Künstlichkeit aus, der Konflikt zwischen der sinnlichen Anna und der intellektuellen Ester ist demgegenüber von fast obszöner Realistik. Die abstrakte Auseinandersetzung ist detailgenau und psychologisch glaubwürdig inszeniert.

Bergman wird in den USA gelegentlich als "foreign filmmaker" bezeichnet, was hier soviel bedeutet wie ernsthaft, anspruchsvoll - im Gegensatz zu Hollywood. Im Vergleich dazu wäre Antonioni der Modernere, der diesen Ernst nicht mehr aufbringen kann und will. Bergman verortet seine Figuren in einem isolierten Innenraum, Antonioni veräußerlicht sie. Bergman gestaltet den Verlust eines im weiten Sinn religiösen Sinnzusammenhangs und die zaghafte Revolte dagegen, Antonioni dokumentiert den Verlust der Erzählbarkeit von Schicksalen an gleichgültigen Orten. Beide gehen nicht immer mit gleicher Radikalität vor. Am Ende steht bei Bergman oft Bedauern und Akzeptanz, bei Antonioni ist die postmoderne Beliebigkeit noch mit einem Hauch von Nostalgie behaftet. Beide Regisseure haben schon lang vor ihrem Tod das Filmen praktisch aufgegeben. Seither stabilisiert sich die Herrschaft des Tarantinismus.

Günter Giesenfeld