Projektseminar: Geschichte der Filmkameratechnik, SS 2016

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Ein Rundgespräch zwischen französischen Kameraleuten über analoge und digitale Technik, veranstaltet von der Zeitschrift Cahiers du Cinéma (2006)

Cahiers du cinéma (CdC): Die Idee eines Gesprächs über Digitalität ist entstanden anläßlich der Charta der AFC. Sie resultiert aus unserem Bedürfnis, darüber mit denjenigen zu reden, die heute die Bilder machen. (…)

Eric Gautier:

Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Arbeit als Chefkameraleute sich sehr grundsätzlich ändert, und auch nicht, ob die Änderungen vergleichbar denen sind, die die nouvelle vague (1) mit sich brachte. Die Technologien werden immer komplexer, deshalb kennen wir DOPs (director of photography) immer weniger unsere Werkzeuge, und vor allem vermehrt sich die Anzahl der Nebenfunktionen. Die Charta der AFC (Association française de la photographie cinématographique (2) soll es uns ermöglichen, unsere Bildidee eines Films von Anfang bis zum Ende der Fabrikationskette einzubringen Als alles noch auf Film gemacht wurde, war diese Kette einfach: Ein Negativ wurde belichtet und entwickelt. Der Lichtbestimmer kümmerte sich um die Arbeitskopie, das Positiv wird dann geschnitten und mit demselben Lichtbestimmer erarbeitet man die endgültige Kopie. Heute sind die Bilder entweder digital schon beim Dreh, oder sie werden digitalisiert für den Schnitt und die Postproduktion. Das Bild ist also virtuell, kodiert, es ist nicht objektiv (physisch) vorhanden. Man braucht einen Apparat, um es neu sichtbar zu machen. Nun kann man das Bild bei jedem dieser Prozesse bearbeiten, zum Beispiel aus einem sehr weichen mit pastellartigen Farben kann man eines mit starken Kontrasten machen. Wenn ich entscheide, daß ein Bild unterbelichtet wird, dann möchte ich nicht, daß irgend jemand es aufhellt, ohne mich davon zu unterrichten. Schlimmer noch ist es bei gewissen Produzenten von DVDs, die nicht daran denken, den Kameramann zu konsultieren. Dann verlieren wir die Kontrolle über unsere Arbeit vollständig.

Barbet Schroeder:

Das ist mir passiert bei der Veröffentlichung meiner Filme auf Video in Hollywood. Ich habe eine ganze Woche lang mit dem Chefkameramann Einstellung für Einstellung überprüft und das Licht für die Videoüberspielung festgelegt. Aber dann, auf der Scheibe, haben sie alles mit Licht überschüttet. Es ist eine Frage der Macht.

E. G.:

Die Kontrolle ist heutzutage auf viele verteilt und damit verwässert. Es ist oft nur der Produzent, der eine Kopie oder eine DVD überprüft, und der denkt nicht daran, den DOP hinzuzuziehen. Sogar für die Projektion im Kino habe ich immer darauf bestanden, die Serienkopien zu überwachen, denn warum sollte das Bild in Montélimar schlechter sein als im Kino auf den Champs-Elysées? Im Falle von Clean haben wir festgestellt, daß, obwohl ich zusammen mit dem Regisseur die Herstellung der Internegative bei der Avant-première in Taipei überwacht habe, die Kopie scheußlich war! Warum haben wir auf so etwas keinen Einfluß?

B. S.:

Vor allem aus wirtschaftlichen Gründen: Wenn man die Kopien auf schlechterem Material zieht, dann kann man viel Geld sparen. Ein US-amerikanischer Verleiher, der zum Beispiel in einem ausländischen Labor entwickeln läßt, kann so leicht 200.000 Dollar sparen.

Gilles Gaillard:

Was heute anders ist, das sind vor allem die Leute, die die Bilder bearbeiten. Der Lichtbestimmer, der die digitalen Bänder bearbeitet, ist nicht mehr derselbe, der sie dann auch am Ende bestimmt. Dasselbe gilt für die Masterkopie, die für das Fernsehen oder die DVD-Edition vorgesehen ist. Darüber hinaus sind die neuen Professionellen keine Kinoleute mehr, sie stehen nicht mehr in der Tradition dieser Kultur. Wenn man das bedenkt, so könnte ihre unterschiedliche Betrachtungsweise, die etwa von der Grafik her bestimmt ist, das Kino vielleicht bereichern. Die Charta der AFC bietet Möglichkeiten zur Zusammenarbeit dieser sehr unterschiedlichen Mitarbeiter. All dies ist sehr neu: Ich arbeite seit 2000 bei Mikros Image; Den Beruf, den ich dort ausübe, gab es vorher nicht. Wir haben damit begonnen, Filme zu digitalisieren seit 2002, Paris war das Zentrum dieser neuen Technik. Das Niveau unserer technischen Ausstattung für das, was man Digitalisierung mit mittlerer Auflösung nennt, war lange Zeit in Paris besser als in Hollywood. Aber das ist vorbei: Derzeit besitzen die französischen Labors zwischen zwei und vier Arrilaser-Geräte (zur Übertragung der digitalen Bänder auf Film), während das größte Labor in den USA 17 davon hat.

CdC: Macht es einen großen Unterschied, auf Film oder direkt digital zu drehen?

G.G.:

Die Aufnahme auf Film verändert die Realität dessen, was aufgenommen wird, um es uns als noch realer erscheinen zu lassen, vor allem bei Vergrößerung des Kontrasts. Es handelt sich um eine Logik der Simulation. Das Digitale bewegt sich in einer Logik der Kapazität. Es reproduziert ein Farbspektrum, wie man es bis heute noch auf keiner Leinwand gesehen hat.

CdC: Was ändert sich beim digitalen Drehen?

Caroline Champetier:

Filmen in digital oder auf Film ist sehr unterschiedlich. Die Möglichkeiten der Virtualität bringen andere Dinge hervor. Mit dem Film habe ich mich immer ein wenig wie ein Meister gefühlt: Ich hatte meine Pinsel. Beim digitalen Drehen verstreut sich alles in alle Richtungen.

B. S.:

Bei La vierge des tueurs, meinem ersten digitalen Film, war es nicht meine Idee, mit Video Film zu machen, sondern ich wollte Video pur machen. Ich dachte, Video eröffne mir einmalige Möglichkeiten, eine Stadt zu zeigen: Da auf dem Bild alles scharf ist, erscheint hinter der Großaufnahme die Stadt, ebenfalls sehr scharf, sie beansprucht dieselbe Aufmerksamkeit wie die Person. Mit digitalem Video kann das Bild, selbst das dokumentarische, sehr schnell ins Fantastische umkippen; dies sind neue Regionen, die es zu erkunden gilt. Collateral rutscht ins Fantastische, weil die Stadt digital gefilmt wurde. Aber bis der Film herauskam waren dabei benutzten Techniken und die hochauflösenden Kameras, wie vor allem die „Viper“, schon überholt.

G. G.:

Die Viper von Thomson hat weder ein Magazin noch einen Speicher, das heißt, sie komprimiert das Bild nicht: Sie hängt an einem riesig dicken Kabel und produziert enorme Probleme bei der Aufzeichnung der Signale.

CdC Man hat aber auch teilweise in 35 mm gedreht.

Bertrand Bonello:

Ja, ein wenig, was ein sehr uneinheitliches Ergebnis ergibt. Zum Beispiel hat man an einer Stelle, wenn Tom Cruise eine hell erleuchtete Treppe hinabsteigt, plötzlich den Eindruck, diese Szene sei mit einer einfachen Videokamera gedreht. Der Widerspruch zwischen dieser Art von Bildern und dem Starstatus eines Tom Cruise ruft einen Effekt der Fremdartigkeit hervor.

B. S.:

In der nahen Zukunft wird die Kamera nur noch ein Objektiv sein, das an einen Computer angeschlossen wird. Das Magazin wird verschwinden.

G. G.:

Ein Auge und eine Festplatte. Das ist bereits Wirklichkeit, denn es gibt eine Videokamera, mit der man auf einer Scheibe 24 Stunden aufnehmen kann.

E. G.:

Die großen Kameras, die dazu bestimmt sind, einmal die 35 mm Kameras zu ersetzen, sind noch im Stadium des Prototyps, auch wenn die Entwicklung sehr schnell geht. Da es sich dabei um große Investitionen handelt, propagiert die Industrie ihren Einsatz, obwohl sie weiß, daß sie sehr schnell veralten werden.

C. C.:

Derzeit benutzt man immer noch den chemischen Film, in 35 mm oder Super 16. Ich glaube, daß ich das Ende des chemischen Films nicht mehr erleben werde, so daß ich noch Zeit habe. Die Zukunft bringt erst einmal den intermediären Einsatz des Digitalen, mit dem "Luxus" der Aufnahme auf chemischem Film. Der chemische Film ist flexibel, er erlaubt in der Postproduktion eine Steigerung der Bildinformation. Das bedeutet wiederum, daß der DOP bei der digitalen Aufnahme ein größeres Risiko eingeht.

Auswahl oder Anpassung

G. G.:

Wenn man mit chemischem Film eine sehr ausgeprägte Beleuchtung wählt, zum Beispiel eine blaue Atmosphäre schafft, und wenn dabei das aufgenommene Bild ein größeres Farbspektrum aufweist, dann kann man bei der Postproduktion zum Beispiel gelbe Töne hinzufügen. Während beim Digitalen das, was blau ist, auch blau bleibt.

E. G.:

Beim chemischen Film werden immer noch neue Materialien produziert.

C. C.:

Beim Dreh des Films L’intouchable in Indien habe ich zwei Kameras mitgenommen, eine Super 16 und eine digitale, denn wir glaubten, daß es Orte geben würde, an denen wir keine Dreherlaubnis erhalten würden. Schließlich habe ich ausschließlich die Aaton Super 16, die wir möglichst leicht gemacht hatten (Lithiumzellen, keinerlei Kabel) benutzt.

CdC: Ist in einem solchen Fall die Videokamera ein Ersatzgerät, ein schlechteres vielleicht und nur für den Notfall?

C. C.:

Ja, insofern als ich keinen technischen Vorteil darin sah, sie einzusetzen. Ich wollte Indien nicht wie eine abstrakte Landschaft zeigen, wie sie die digitalen Totalen suggeriert hätten. Bei der Aaton konnte ich mit dem Filmmaterial experimentieren, es bis auf 1000 ASA pushen. Aber die kleine DV-Kamera hätte mir erlaubt, „unsichtbar“ zu sein.

CdC: Während für La vierge des tueurs zum Beispiel die Entscheidung einen ästhetischen Grund hatte.

B. B.:

Entweder ist die Digitalität eine ästhetische Erntscheidung oder sie ist nur ein Notbehelf. Im letzteren Fall wird es der Wunsch des Regisseurs sein, daß das Bild dem ähnlich ist, das er eigentlich in 35 mm haben wollte. Und da wird es oft Enttäuschungen geben. Viele Regisseure, die digital gedreht haben, freuen sich, wenn das Resultat „wie Film aussieht“. Ich finde es interessant, daß es zwei „alte“ Regisseure waren, Jean-Luc Godard und Eric Rohmer, die fast zur gleichen Zeit digital gedreht haben und dabei eine Idee des digitalen Produzierens entwickelt haben: Eloge de l’amour und L’Anglaise et le Duc.

B. S.:

Der Pionier des Einsatzes von Video für einen abendfüllenden Film war aber Michelangelo Antonioni mit Das Oberwald-Mysterium.

E. G.:

Die Qualität des Bildes war schrecklich, aber die Idee war geboren. Im Jahre 1960 war Lars von Trier einer der ersten, der die Bilder digitalisierte, um die Farben auszudünnen, in Breaking the Waves.

C. C.:

Rohmer und Godard, und natürlich Bergman waren ebenso Pioniere wie Benoît Jacquot.

Verhältnis zu den Schauspielern

G. G.:

In seinem Film Inguélézi (2003) hat François Dupeyron sein Verhältnis zu den Schauspielern geändert, als er zum ersten Mal digital gedreht hat. Er hat sie getrennt zu Gesprächen gebeten, probte mit ihnen und ließ erst danach seinen DOP Yves Angelo aufs Set kommen. Wenn der erste Take im Kasten war, mußte Angelo wieder das Set verlassen, und Dupeyron probte erneut mit seinem Schauspieler, dann kam Angelo zurück, um den zweiten Take aufzunehmen, usw. – Einer der Vorteile des Digitalen ist die Möglichkeit sehr lange Takes zu machen. Aber es gibt noch mehr Besonderheiten: Es gibt HD-Kameras, die nehmen 10 Sekunden auf, bevor man den Auslöser drückt!

B. S.:

Ein weiterer Vorteil: Man kann es sich finanziell leisten, mit zwei oder drei Kameras gleichzeitig zu drehen. Ein Schauspieler, der gerade richtig „drin“ ist, kann diese Energie bewahren für den nächsten Take, der sofort anschließend aufgenommen werden kann. Ich habe in La vierge des tueurs so angefangen und habe es noch intensiver so in Calculs meurtiriers gemacht. Im Grunde à la Hollywood, nur noch komfortabler. Wenn Casavetes heute Filme machen würden, dann benutzte er sicher diese Technik, die sehr gut ist für die Schauspieler.

G. G.:

Das ist alles ziemlich faszinierend, aber was ist der Unterschied zwischen dieser Möglichkeit des Einsatzes vieler Kameras, die Verlängerung der Takes und, sagen wir mal, dem Loft(2)? Der Akt des Filmens benötigt doch eine Achse, einen Standpunkt, eine Perspektive.

B. B.:

Ich habe kürzlich in einem Film mitgespielt, der digital gedreht wurde. Die Einstellungen waren durchschnittlich 30 Minuten lang, anstatt wie üblich 50 bis 60 Sekunden. Das ist eine höchst seltsame Erfahrung: Nach 10 Minuten verliert man die Orientierungspunkte (3) aus dem Blickfeld, nach 15 Minuten weiß man nicht einmal mehr, ob die Kamera noch läuft.

C. C.:

In Un couple parfait war es ähnlich. Suwa und ich haben mit dem Verhältnis von Raum und Zeit gespielt, und mit der Streckung der Zeit. Zunächst einmal wissen die Schauspieler, daß Rhythmus und Raum im Film künstlich sind, immer ein wenig schneller, immer ein wenig näher dran. In den langen Einstellungen verspüren sie eine Einsamkeit, oder fast ein Schwindelgefühl angesichts der Raum-Zeit-Realität, was seltsame Dinge hervorruft.

E. G.:

Die kreative Spontaneität bei der Aufnahme, bei den kollektiven Arbeitsformen, wird immer reicher sein als ein erst in der Montage entstehender Film.

B. S.:

Wenn ich von zwei oder drei Kameras sprach, dann meinte ich nicht, daß die Filme erst bei der Montage entstehen. Ich dachte an die Schauspieler, die während der Szene wirklich einander gegenüber stehen und nicht mit der Kamera allein sind.

C. C.:

Téchiné ist der französische Filmemacher, der hierüber nachgedacht hat. Er sagt: „Schauspieler im selben Raum-Zeit-Gefüge“.

B. B.:

Wenn man eine Einstellung in Film dreht, dann entsteht durch das allgemeine Bewußtsein, wie teuer das ist, eine Spannung, die auf den Schauspieler übergreift. Er fühlt sich verpflichtet, sofort alles zu geben.

Eine andere Chronologie, ein anderes Machtverhältnis

CdC: Man sagt, daß das Kino auf der Suche sei, daß die Dreharbeiten das Wesentlichste sind. Aber gibt es nicht längst eine andere Art von Kino, das den Drehakt nur noch als eine einfache Akkumulation von visuellen und auditiven Informationen auffaßt? Anders gesagt, verlegen die neuen digitalen Werkzeuge nicht den zentralen Zeitpunkt, in dem ein Film entsteht, auf spätere Momente der Produktion? Und Sie, die Sie hier mitdiskutieren, würden Sie sich dagegen wehren?

G. G.:

Die digitalen Werkzeuge stellen in der Tat den Ort des Autors in Frage. Die DVD-Produzenten in den USA etwa erweitern den Markt, indem sie verschiedene Versionen, auf verschiedene Publikumssektoren abgestimmt, eines und desselben Films herstellen. Allgemeiner ausgedrückt, ist die Linearität der für das Kino typischen Zeit auf den Kopf gestellt. Sie kann jetzt an jeder Stelle segmentiert werden, bis zum Ende. Zu Beginn der digitalen Lichtbestimmung, da wurde sie nach der Montage vorgenommen, heute wird der Film danach noch einmal geschnitten.

B. S.:

Die Digitalität erschüttert auch unsere Wahrnehmung des Bildes. So haben viele Kritiker geschrieben, daß Le visage des tueurs auf der Straße gedreht worden sei, mit der Handkamera. Aber ich habe ein Steadycam (4) benutzt, alle Farben bearbeitet und die Dialoge Wort für Wort vorher geschrieben! Das HD-Bild – welches zu der Zeit die „neue Herausforderung“ war – wurde oft verwechselt mit dem DV (5).

G. G.:

Noch heute ist das Aufnehmen mit HD uneinheitlich: HD gleicht das Bild an den Kontext an. Es ist ausgezeichnet, wenn ich jemand vor einem neutralen Hintergrund filme, aber wenn im Hintergrund zum Beispiel Laub ist, dann hat die Person viele kleine Treppchen am Kopf.

E. G.:

Wenn man es zusammenfassend sagen will, so ist das elektronische Bild heute dem chemischen sehr nahe gekommen. Aber bei der Aufnahme ist die Arbeit mit chemischem Film organischer und HD nur ein elektronisches Signal. Also der Film ist sinnlicher, bietet einen größeren Reichtum an Textur (Oberflächenbeschaffenheit) und eine subtilere Darstellung der Farben. In HD ist das Bild weniger menschlich, und von daher hat es diesen fantastischen Aspekt, von dem Barbet sprach.

C. C.:

Die Filme von Visconti zum Beispiel sind überwältigend durch die Kraft der Dekors, der Stoffe, der Ansammlung von Realem – welch ein Reichtum herrschte da, schon vor der Aufnahme der Bilder! Die Genauigkeit, mit der Visconti arbeitete, bewirkte, daß ein Sessel, ein Rock aus dem Bild hervortraten, weil die Farbe ungewöhnlich war, wird heute nicht mehr bei der Aufnahme aufgewendet, denn die Farben werden erst bei der Postproduktion bestimmt. Diese Zeitverschiebung beim kreativen Akt ist gefährlich für das Verhältnis zum Realen und für die Sinnlichkeit. Die Beziehung zur Haut der Schauspielerinnen verändert sich derzeit. Als ich Danielle Darrieux filmte, hatte ich den Eindruck, daß ich eine der letzten Schauspielerinnen filmte, zu der ich einen ungestörten Kontakt hatte. Wir kommen auf das zurück, was Bonello sagte: Wir, die DOPs, sind dabei, das Wahrnehmungsvermögen zu verändern. Die Nutzer der Spielkonsolen sahen Lara Croft als eine Frau, als ein begehrtes Geschöpf, das zur virtuellen Phantasie der Weiblichkeit gehört. Die wirklichen Frauen, die Schauspielerinnen beginnen, sich daran anzugleichen. Was wird aus unserem Verhältnis zur Haut der Schauspielerinnen? Die Wahrnehmung und die Reaktionen des Gehirns sind verändert, auch daher kommt dieser Eindruck des Fantastischen.

E. G.:

Es ist eine Mutation der Menschheit.

Über das Geld und den Augenblick der Entscheidung

E. G.:

Bei einem normalen Budget sind es vor allem die Personalkosten, die teuer sind: Schauspieler, Dekorateure…

G. G.:

Der Unterschied liegt nicht so sehr zwischen den Kosten der digitalen und denen der filmischen Ausrüstung, sondern eher in der Zeitplanung der Dreharbeiten. Drehen in DV oder HD erlaubt bei Drehen Einsparungen. Beim chemischen Film werden die Aufnahmen entwickelt und es werden die „rushes“ (6) begutachtet. Beim digitalen Dreh entstehen bis zum Endpunkt der Herstellung kaum Kosten. Wenn also am Ende dieses Prozesses der Film nicht gut ist oder nicht ankommt, dann bedeutet das keinen ruinösen Verlust. So können unsichere Projekte digital erst einmal realisiert werden, und man kann dann auf die Suche nach einem Verleiher gehen, und wenn man einen gefunden hat, die restlichen Arbeiten in Angriff nehmen. In dieser letzten Etappe sind die Kosten höher als beim chemischen Film, aber der Film ist davor schon verkaufbar.

CdC: Und umgelehrt kann ein Produzent einen bereits gedrehten Film ablehnen, wenn er ihm nicht gefällt! Dieser Moment ist ganz nach hinten gerückt, was den Filmregisseur in eine ähnliche Lage bringt wie einen Schriftsteller, der einen Verleger sucht.

B. S.:

Deshalb brauchen wir einen neuen Berufszweig, ähnlich dem des „Lektors“ in einem Verlag. Es geht darum, die in der Fertigung befindlichen Projekte in ihren verschiedenen Stadien zu prüfen, und zwar von jemandem (wenn es denn schon nicht der Regisseur sein soll), der den ganzen Prozeß pberblickt.

E. G.:

Bei der Licht- und Farbbestimmung ist das Digitale wesentlich reicher als der chemische Film, was die Künstlichkeit angeht. Für einen Realismus wie in Clean ist die klassische Art interessanter. Manchmal wäre eine digitale Licht- und Farbbestimmung wünschenswert, aber das Budget erlaubt sie nicht. Der Irrealismus des Films von Resnais, den ich zur Zeit drehe, würde eine solche digitale Farbbestimmung erfordern, aber sie ist uns zu teuer. Dasselbe gilt für Gabrielle.

C. C.:

… während L’intouchable, gedreht mit reduziertem Team von vier Personen und in Super 16 mm digital farbbestimmt werden wird, bevor ein Dub-Negativ (auf Film) gezogen wird. Dies ist eine Entscheidung, die zu Beginn bereits getroffen werden muß.

G. G.:

Wenn man von 16 mm auf 35 mm kopieren läßt, um den Film dann zu schneiden, so ist das fast ebenso teuer wie eine digitale Farbbestimmung. Deswegen hat sich der Regisseur Guédiguian für das Digitale entschieden seit Marie-Jo et ses deux amours.

C. C.:

In einem Jahr wird es auch billiger werden, Cinemascope digital zu schneiden. Aber die wirkliche große Revolution wird erst dann passieren, wenn der digitale Schnitt sehr viel billiger sein wird.

G. G.:

Der teuerste Apparat ist derzeit der Arrilaser, der etwa 400.000 Euro kostet, auch ist es am teuersten, wenn man auf Mietbasis eine Digitalisierung auf diesem Apparat machen läßt.

CdC: Warum benutzt man nicht systematisch für die Digitalisierung den Avid (7)?

C. C.:

Das ist nicht dasselbe. Der Schnitt auf einem Avid geschieht in niedriger Auflösung. Es gibt unglückliche Filmemacher, die zwei Wochen lang auf dem Avid nur Nieselregen sehen und die ihn schlußendlich lieben oder sich daran gewöhnen! Und wenn sie ihren Film dann auf der Leinwand sehen, sind sie schockiert.

Von der Aufnahme zur Projektion

B. B.:

Die erste Projektion auf Leinwand eines Films, den man auf Avid montiert hat, ruft einen Schock hervor, und sogar Enttäuschung. Zwei Monate lang hat man sich an das niedrig aufgelöste Bild gewöhnt und fühlt sich ihm verbunden. Ich lasse während der Montage immer wieder Szenen auf Film zurückkopieren, um mein Auge wieder daran zu gewöhnen.

B. S.:

Bei La vierge des tueurs hat mir das Bild, das ich beim Dreh auf dem Monitor sah, genügt: Die Farben, der Kontrast. - Der Film hat mich anschließend enttäuscht. Mein Traum war eine digitale Projektion, wie bei Saraband.

B. B.:

Ich habe niemals Digital gearbeitet, aber eines der beiden Projekte, an denen ich derzeit arbeite, wird digital hergestellt und ohne Kopien. Wenn der Film auf einem Festival laufen soll, werde ich eine digitale Projektion fordern. Ich möchte auf diese Weise die Kontrolle über den Film behalten, denn ich bin mir nicht sicher, ob eine Rückkopierung auf Film für ein solches Projekt gut ist.

B. S.:

Bei einer digitalen Projektion wird man den Film so sehen, wie er gesehen werden muß, oder man wird ihn überhaupt nicht sehen.

Quelle: Cahiers du Cinéma, Nr. 610, März 2006.
Das Gespräch fand am 4. Februar 2006 statt.
übersetzt von Günter Giesenfeld

Anmerkungen (von gg):

(1) Die "nouvelle vague" war insofern ein Einschnitt in der französischen Flmgeschichte (genau wie ähnliche Bewegungen in anderen Ländern), als sie konsequent auf das Studio verzichtete und vorwiegend im Freien filmte. Dazu waren gerade neue Kameramodelle auf den Markt gekommen, die ein Filmen ohne Stativ und mit Direktton-Aufnahme erlaubten. Das war für die Kameraleute eine wichtige Umstellung.

(2) Diese „Charta“ will die Forderung formulieren und begründen, daß der DOP die Kontrolle über das Bild bis zum Ende des Produktionsprozesses haben muß. Vor allem wendet sich der Text gegen die immer häufigere Praxis, Probekopien nicht mehr als Filmkopie, sondern als Videoüberspielung (in niedriger Auflösung) herzustellen. Dadurch werde die Überprüfung der Ergebnisse der Dreharbeiten unmöglich und Korrekturen ebenfalls. Dies sei eine „schlimme Verschlechterung der Bedingungen unserer Arbeit“, so Pierre Lhomme, Kameramann seit 1954. Der vollständige Text der Charta steht als pdf-Datei in französisch und englisch bereit.

(2) Loft: Der Ausdruck ist mir nicht als filmtechnischer Fachterminus bekannt. Normalerweise bezeichnet man damit einen größeren, manchmal über zwei Stockwerke gehenden Raum (Dachboden), der als Wohnung, aber auch als Atelier oder Studio benutzt wird. Deshalb scheint hier einfach „Studio“ gemeint zu sein bzw. ein voll ausgebautes Set.

(3) Orientierungspunkte: Kleine Zeichen, die auf den Studioboden angebracht werden, um den Schaupsielern bewußt zu machen, wie weit das Blickfeld der Kamera geht und welche Grenzen sie nicht überschreiten dürfen, wenn sie nicht aus dem Bild geraten wollen.

(4) Steadycam: Eine Vorrichtung, mit der die Kamera (und ein Monitor) so am Körper des Kameramanns befestigt wird, daß er damit gehen und laufen kann, wobei die typischen Auf- und Abbewegungen der Schritte durch Gewichte ausgeglichen werden. Das Steadycam wird nur beim Film eingesetzt, das Bild wird im Sucher mit einer kleinen Videokamera abgegriffen und auf einen Monitor geleitet, weil der Kameramann mit diesem Gerät nicht durch den Sucher schauen kann.

(5) dv: "digital video" eine digitale Aufnahmekamera mit kleinen bis sehr kleinen (mini-dv) Kassetten, die auch im semiprofessionellen und Amateurbereich verbreitet sind und ein Filnmen wie mit den alten Super 8 Kameras erlauben. HD: "high definition" hochauflösende Kameras für den professionellen Film, sehr groß und sehr schwer.

(6) Rushes: sofort nach dem Entwicklen der Aufnahmen angefertigte unbearbeitete Kopien, die das Team in einer Projektion in einem kinoähnlichen Raum sehen und beurteilen kann. Bei großen Studios stehen die rushes schon am Abend des Drehtags zu Verfügung.

(7) Avid: Das heute gebräuchlichste nonlineare Schnittsystem für alle Videoformate. Es arbeitet mit einer komprimierten Aufzeichnungsmethode, um Festplattenspeicher zu sparen. Wird auch in entsprechend "abgespeckten" Versionen für den Amateurbereich angeboten.